Die Tragik von
Helmut Palmer liegt darin, dass er, der die Bürokratie, die
Denkfaulheit, den Untertanengeist mit bissigem Witz
bekämpfte, der für Demokratie, Toleranz und Zivilcourage
sein bürgerliches Leben aufs Spiel setzte, diese Tugenden im
Umgang mit sich selbst nicht anwenden konnte.
Es sind wohl zwei entscheidende Erfahrungen in seinem Leben, die
verhindert haben, dass Helmut Palmer sich für sein Land, das
er immer geliebt hat, ganz offiziell einsetzen konnte:
Es ist zum einen die demütigende Erfahrung seiner Kindheit, das
Ausgegrenztsein, die Hänseleien. Obwohl er den Naziterror im
Vergleich zum Schicksal vieler Juden körperlich unversehrt
überstand, konnte er nie überwinden, dass er, der eben kein
Jude war, dies Schandmal eingebrannt bekam. Noch in den
letzten Wochen seines Lebens hat er voll Verbitterung über
diesen „Antisemitismus ohne Juden“ gesprochen.
Und zum anderen war es die Erfahrung mit einer unbarmherzigen
Bürokratie, die seine Genialität nicht erkannt und genutzt,
sondern ihn gedemütigt hat. Diese Demütigungen begannen 1963
mit seiner Festnahme in Esslingen – ich habe keinen Zweifel
daran, dass seine Erinnerungen an die Schläge und die miese
Behandlung wahr sind. Diese Demütigungen gingen weiter, und
es ist keine Entschuldigung für den Justiz- und
Vollzugsapparat unseres Landes, dass in den 40 darauf
folgenden Jahren immer wieder einmal auch Gnade vor Recht
erging, dass unabhängige Richter und Politiker durchaus auch
in der Lage waren, Palmers Tragik und Palmers Einsatz für
das Land entsprechend zu würdigen. Helmut Palmer wurde
insgesamt zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, und man muss
kein Palmer sein, um diese Bestrafung im Vergleich zu manch
milden Urteilen gegen Kriminelle mit weißem Hemd und
Krawatte als skandalös zu bezeichnen. Man versuchte, ihn
zwangsweise zu psychiatrisieren, man warf ihn ein letztes
Mal, krebskrank und fast 70 Jahre alt, ins Gefängnis, und
ich habe persönlich mit erlebt, wie 300 Polizisten in
Uniform, die beim Dreikönigstreffen der FDP für bessere
Behandlung demonstrierten, sich beim Anblick von Helmut
Palmer in eine geistlose Masse verwandelten, ihn persönlich
angriffen und „Palmer raus“ skandierten.
Helmut Palmer hat auf diese Traumatisierung auf die ihm eigene,
einmalige und unverwechselbare Weise reagiert: Mit seiner
scharfen, volkstümlichen, entlarvenden Sprache, mit seinem
Hass auf die Bürokratie, mit einer Sturheit, die seine
Freunde und Feinde oft zur Verzweiflung brachte. Helmut
Palmer hat es uns nicht immer leicht gemacht, aber viel
mehr, als er uns zugemutet hat, hat er sich selbst
zugemutet.
Ist Helmut Palmer in seinem Leben, mit seinem Leben gescheitert, weil
er mit den Verletzungen, die man ihm beigebracht hat, nicht
fertig werden konnte? Nein, Helmut Palmer ist nicht
gescheitert. Trotz seiner vielen Niederlagen, trotz seiner
Sturheit, trotz seiner vielen Fehler hat er sich um unser
Land verdient gemacht.
Da sind zunächst seine Kandidaturen um Bürgermeisterposten, Landtags-
und Bundestagsmandat zu nennen, die auch – wie 1974 in
Schwäbisch Hall – zu persönlichen Triumphen führten. Während
andere – ich denke da an Gudrun Ensslin und Andreas Baader –
aus ihrer Ohnmacht und Verzweiflung zu brutalen Terroristen
wurden, hat Helmut Palmer immer gewaltlos, friedlich und mit
demokratischen Mitteln gekämpft, und er war mit Recht stolz
darauf. Er hat landauf, landab den Etablierten das Fürchten
gelehrt, er hat auf urdemokratische Weise um jeden Wähler
gekämpft, so erfolgreich Politikverdrossenheit bekämpft und
gezeigt, dass Politik auch Spaß machen kann.
Wichtiger allerdings als das Einsammeln von Stimmen war Helmut Palmers
unermüdlicher Einsatz für einen ökologisch wie ökonomisch
sinnvollen Obstbau. Hier vor allem war er seiner Zeit um
Jahrzehnte voraus, und er hat darunter gelitten, dass sein
Einsatz von den beamteten sogenannten Obstbauexperten nicht
gewürdigt, sondern, von wenigen Ausnahmen abgesehen, giftig
befeindet wurde. Welche Dummheit, welche Arroganz, welch
kleinbürgerlichen Dünkel gegen den „Moses“ aus Geradstetten
musste Palmer ertragen! Zu seinen unvergänglichen Leistungen
gehört, dass er nie müde wurde und selbst sterbenskrank sein
Wissen weitergab. Dummheit und Arroganz waren auch dann die
Antwort, wenn Helmut Palmer andere Themen aufgriff,
idiotische Verkehrsführungen, Ampelanlagen und Bepflanzungen
angriff und immer häufiger selbst tätig wurde, weil die
Verwaltung weiter schlief.
So wird Helmut Palmer vielen Menschen in Erinnerung bleiben: Als
unbeugsamer Einzelkämpfer um mehr Demokratie, mehr
Gerechtigkeit und einen sinnvollen Umgang mit der Natur und
deren Ressourcen. Wir, die wir Helmut Palmer näher kennen
lernen durften, wissen, dass dies nur die eine, öffentliche
und veröffentlichte Seite seines Lebens darstellte.
Helmut Palmer war ein höchst sensibler, unheimlich freizügiger und
großzügiger Mensch. Er hat das Geld, das er verdiente, immer
nur als Mittel gesehen, um seine Politik in Anzeigen und
Wahlkämpfen zu vermitteln, und um anderen Menschen zu
helfen. Er, dem manche vorwarfen, in jüdischer Manier Geld
auf Kosten anderer zu scheffeln, hat sich und seine Familie
wegen seiner Großzügigkeit fast an den Bettelstab gebracht.
Meine tiefe Zuneigung zu dem Menschen Palmer speist sich aus zwei
Quellen: Es ist diese ganz persönliche Großzügigkeit im
zwischenmenschlichen Bereich, die für mich immer mehr zählte
als der gefühllose und aggressive Panzer, den ihm das Leben
geschmiedet hat. Und das zweite, was mir Helmut Palmer
unvergesslich macht, ist, dass er mir Lebensalternativen
aufgezeigt, dass er mich im Spiegel seiner Geradlinigkeit
gezwungen hat, mich selbst besser kennen zu lernen.
Ganz am Ende seines Lebens hat Helmut Palmer mit sich und der Welt
Frieden geschlossen. Er hat wenige Tage vor seinem Tod alle
seine Kinder gesehen, er hat um Verzeihung gebeten für die
Verletzungen, die er zugefügt hat, vielleicht zufügen
musste, und er hat uns mit offenen Augen und aufrecht
verlassen, wie es sein Leben war.
Gerade in der Zeit, als Helmut Palmer endgültig in die Klinik musste,
hörte ich von Rüdiger Safranski einige bemerkenswerte Sätze
über Friedrich Schiller:
„Nach Schillers Tod am
9. Mai 1805 wurde die Leiche obduziert ... Doktor Huschke,
der Leibmedicus des Weimarer Herzogs, fügte dem
Obduktionsbefund den lapidaren Satz hinzu: ‚Bei diesen
Umständen muß man sich wundern, wie der arme Mann so lange
hat leben können‘. Hatte nicht Schiller selbst davon
gesprochen, daß es der Geist sei, der sich seinen Körper
baut? Ihm war das offenbar gelungen. ... Aus dem
Obduktionsbefund läßt sich die erste Definition von
Schillers Idealismus ablesen: Idealismus ist, wenn man mit
der Kraft der Begeisterung länger lebt, als der Körper
erlaubt. Es ist der Triumph eines erleuchteten, eines hellen
Willens. Bei Schiller war der Wille das Organ der Freiheit.“
Helmut Palmer hat dieses Buch als letztes gelesen, und er hat diesen
Satz, dass „Idealismus ist, wenn man mit der Kraft der
Begeisterung länger lebt, als der Körper erlaubt“, ganz
persönlich für sich genommen.
Wir müssen heute Abschied nehmen von einem Idealisten mit ganzer Seele.
Ihnen, Frau Palmer, und uns bleibt die Erinnerung an einen
großen Menschen.
Hermann-Arndt
Riethmüller
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